Susanna Gärtner aus Bonn und Jonathan Platzbecker aus Essen gewinnen das Finale des Landesschülerwettbewerbs „Certamen Carolinum“

Aachen. Seit 1985 findet das Finale des Landesschülerwettbewerbs Alte Sprachen NRW „Certamen Carolinum“ in Aachen statt. In diesem Jahr trafen sich jedoch aufgrund der Pandemie die acht Finalistinnen und Finalisten aus ganz Nordrhein-Westfalen zum ersten Mal vom 19.-21.11. im digitalen Raum, um sich dort in Auswahlgesprächen, mit Vorträgen sowie in Colloquia einer Fachjury zu stellen.

Gewürdigt wurden die Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe für ihr außerordentliches Engagement und ihre exzellenten Leistungen im Rahmen einer nahezu zweistündigen digitalen Preisverleihungsfeier, die von Alexander Weber, dem Koordinator des Wettbewerbs, kurzweilig und souverän moderiert wurde.

In seiner Begrüßung sprach Prof. Dr. Max Kerner von der RWTH Aachen den Schülerinnen und Schülern seine besondere Anerkennung aus, da sie sich sub corona dem Wettstreit der Alten Sprachen gestellt hätten. Zugleich erinnerte er als Experte der mittelalterlichen Geschichte an die schwere Seuche, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa ca. 20 Millionen Menschen das Leben gekostet habe. Der große italienische Humanist Petraca habe als Zeitzeuge von einer alternden Welt und von einer Jugend gesprochen, die solches Leid nie erfahren werde. Die aktuelle Wirklichkeit scheine jedoch angesichts der vielfältigen Herausforderungen wieder selbst alt geworden zu sein. In den Finalistinnen und Finalisten des Wettbewerbs sieht Prof. Kerner aber eine Jugend, die aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Reflektion und ihrer Leistungen Anlass zur Zuversicht geben.

Diese Ansicht unterstützte Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, in ihrer Videobotschaft und ihrem Grußwort. Sie halte den Einblick in die Themen der klassischen Literatur für besonders wichtig. Einerseits erfordere die Auseinandersetzung mit altsprachlichen Texten ein hohes Maß an Analysefähigkeit und Reflexionsvermögen. Andererseits schärfe diese doch den Blick für die Gegenwart und führe zu einem vertieften Verständnis der eigenen Wurzeln. Unser Europa wäre, so die Ministerin, ohne die antiken Wurzeln nicht denkbar, die Zukunft Europas ohne die Kraft aus den antiken Wurzeln nicht gestaltbar. Frau Gebauer betonte, dass die Alten Sprachen dabei nicht wirklich „alt“ seien. Ihre Kenntnis könne, gepaart mit den richtigen Fragestellungen, zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beitragen.

Die von der Ministerin genannten Kompetenzen bewiesen die Schülerinnen und Schüler in der Endrunde des Wettbewerbs. Sie analysierten wichtige aktuelle Fragestellungen und suchten auf Grundlage antiker Texte nach neuen Lösungsansätzen. So setzte sich Susanna Gärtner von der Erzbischöfliche Ursulinenschule Bornheim-Hersel in ihrem Festvortrag „Das Leben nicht auf später verschieben“ mit den Zwängen der heutigen Geschäftigkeit auseinander. Die heutige Lebensweise, die die deutsche Philosophin Rebekka Reinhard als „Generation Option“ bezeichnet, stelle die Menschen vor immense Herausforderungen. Die Schülerin machte deutlich, dass vielfältige Angebote in unserer Zeit, das damit verbundene Gefühl der verpassten Möglichkeiten und ein ständiger Vergleich mit den Lebensweisen der Mitmenschen zu persönlichem Stress und schließlich einem unglücklichen Leben führe. Sören Kierkegaart habe treffend gesagt: „Der Vergleich ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ Bereits der römische Philosoph Seneca habe die allzu Beschäftigten (occupati) davor gewahrt, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren und den Beginn des Lebenswollens auf einen Zeitpunkt zu verschieben, wenn es schließlich zu spät sei. So ermahnte Susanna Gärtner die zahlreichen Konferenzteilnehmenden, das eigene Leben und eigene Handeln regelmäßig zu reflektieren. Für ihre Leistungen wurde sie mit dem ersten Platz und der damit verbundenen Aufnahme in die Studienstiftung des deutschen Volkes e.V. belohnt.

Auch David Elias Meister vom Städt. Albert-Martmöller-Gymnasium in Witten stellte Senecas Thesen ins Zentrum seiner Überlegungen. Er richtete dabei den Blick auf die Psychotherapie auf Grundlage der Psychischen Flexibilität. Als Würdigung für seine Leistungen überreichte ihm Jürgen Bertram, Schulleiter des Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen, den Geldpreis der „Vereinigung der ehemaligen Schülerinnen und Schüler des Kaiser-Karls-Gymnasiums“.

Die aktuelle Corona-Situation thematisierte Daniel Hagen vom Landfermann-Gymnasium Duisburg in seinem Vortrag „Die Bewältigung der Krise. Der Umgang mit der Pest in Sophokles‘ König Ödipus“. Er betonte die Wichtigkeit der Fürsorgepflicht der Herrschenden gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern des Staates. Dabei sei ein Dialog von Herrschenden und Volk wichtig, um die Krise zu bewältigen. Das Generalkonsulat der Hellenischen Republik in Düsseldorf würdigte diese Leistung mit einer mehrtägigen Reise nach Athen. Die Vertreterin des Generalkonsulats, Effrosyni Karvouni, ermunterte die Zuhörenden dazu, sich mit den altgriechischen Texten zu beschäftigen, seien doch die Hellenen die kulturellen Vorfahren unserer Dichter und Denker.

Selja Jung von der Viktoriaschule in Aachen legte im Kontext der Pandemie mit Rückgriff auf Ciceros De re publica Wert auf das richtige Verhältnis von staatlicher Einschränkung und individueller Freiheit. Nur wenn das richtige Maß gefunden werde, bleibe das Staatswesen stabil. Für ihre ausgezeichneten Leistungen erhielt sie den Preis des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Dem Begriff der Freiheit widmete sich auch Jonathan Platzbecker vom B.M.V.-Gymnasium in Essen in seinem äußerst anspruchsvollen philosophischen Diskurs „Augustinus und das Drama der (Un-)Freiheit“. Er stellte die Willensfreiheit des Menschen und damit auch die Freiheit zum Bösen ausgehend von den confessiones des Augustinus in Frage. Diese Frage sei besonders im Strafrecht relevant, wenn es um die Schuldfähigkeit eines Angeklagten gehe. Zugleich sei der Ansatz des Kirchenvaters Augustinus auch in der Psychoanalyse wiederzufinden, wenn Sigmund Freud sage: „Das Ich ist nicht der unumschränkte Herrscher in seinem eigenen Heim.“ Jonathan Platzbecker wurde für seine außergewöhnlichen Fähigkeiten ebenfalls mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes e.V. geehrt.

Über eine Reise innerhalb der Grenzen des ehemaligen Imperium Romanum, verliehen von der Elisabeth-Lebek-Stiftung, durfte sich Gerald Schmittinger vom Collegium Josephinum in Bonn freuen. Er hatte sich mit Blick auf Ovids Ikarus-Mythos mit dem Generationenkonflikt zwischen Dädalus und Ikarus auseinandergesetzt. Wichtig sei es, der Jugend zu vertrauen und ihr die Möglichkeit zu geben, der jugendlichen Gier (cupido) nach Neuem auch im Bewusstsein möglicher Gefährdungen die Tür zu öffnen. Nur so könnten neue Ziele erreicht werden.

Mit dem gleichen Mythos setzte sich Dominik Prochota vom Städtischen Gymnasium Bergkamen auseinander. Er richtete aber einen tiefenpsychologischen Blick auf die von Ovid beschriebene Vater-Sohn-Beziehung. Als jüngster Teilnehmer im Finale und bester Schüler seiner Jahrgangsstufe erhielt Dominik Prochota den Geldpreis der Stadt Aachen sowie als Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen die Gelegenheit zur Teilnahme am Internationalen Lateinwettbewerb „Certamen Ciceronianum Arpinas 2021“ in Italien.

Aufgrund ihrer Erfahrungen während eines Auslandsschuljahres in China warf Samantha Schmidtmann vom Gymnasium Theodorianum Paderborn schließlich die Frage nach der Bedeutung von Imitatio und „Urheberrecht“ in der Antike auf und stellte den Bezug zur heutigen wirtschaftlichen Bedeutung dieser Frage her. Dr. Hermann Krüssel überreichte ihr den Geldpreis des Vereins Pro Lingua Latina e.V.

Von der Bandbreite und der ausgezeichneten Qualität der Schülerleistungen zeigte sich die neue Aachener Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen während der digitalen Preisverleihungsfeier begeistert. Es werde deutlich, dass sich über die Alten Sprachen eine neue Welt erschließe. Dies bedürfe aber der Ausdauer und Beharrlichkeit des Lernens, Tugenden, die heute leider an Bedeutung verloren hätten. Gerade in Zeiten der Pandemie, so die Erste Bürgerin der Stadt, werde der Lebenslauf eines jeden auf die Probe gestellt. Um die Herausforderungen der Zeit bewältigen zu können, sei Erfahrungswissen aus der Vergangenheit und die Erkenntnisse der Wissenschaften wichtig. Sie dankte allen, die sich für die Alten Sprachen einsetzten, und lud abschließend alle Finalistinnen und Finalisten im kommenden Jahr ins Aachener Rathaus ein.